Silvian Tesson „Der Schneeleopard“

Rowohlt Verlag 2021 / geb. / 192 Seiten / 20 €

Eine Empfehlung von Nina Schramm

Mein aktuelles Lieblingsbuch stammt von dem französischen Reiseschriftsteller Silvain Tesson, der sich zusammen mit dem Naturfotografen Vincent Munier auf eine Reise in das tibetische Hochland begibt, um dort den fast ausgestorbenen Schneeleoparden zu finden und zu fotografieren. Die Reise ist geprägt von langen Wartezeiten und großen Strapazen. Doch Geduld und Hartnäckigkeit werden belohnt durch atemberaubende Naturschauspiele. Ich werde an dieser Stelle nicht verraten, ob der Schneeleopard gefunden wird!
Silvain Tesson hat mich mitgenommen auf eine Reise, die ich nicht mehr vergessen kann. Und auch wenn ich die Schönheit der „weißen Stille des Himalaya“ nach wie vor nur erahnen kann: Ich hatte das Gefühl, ich war kurz dabei.

T.C. Boyle „Sprich mit mir“

Hanser Verlag 2021 / geb. / 352 Seiten / 25 €

Eine Empfehlung von Detlef Gertkamp

Ich bin Sam. Sam ist ein Schimpanse, kommuniziert in Gebärdensprache und lebt mit dem Wissenschaftler Guy und der Studentin Aimee zusammen. Guy will in einem Sprachexperiment beweisen, dass es Kommunikation zwischen Schimpansen und Menschen geben kann.

Sam, aufgewachsen nur mit Menschen, entwickelt sich zu einem eigenständigen Individuum. Aber dann muss er schmerzlich lernen, dass er anders ist: „Schlüssel Schloss Raus“ – Sam erwacht in einem Käfig. Und kann nicht verstehen warum.

T.C. Boyle erzählt Sam’s Lebensgeschichte aus der Perspektive von Guy und Aimee, aber eben auch aus der des Schimpansen Sam.

Boyles neuer Roman „Sprich mit mir“ ist ungeheuer packend! Unterhaltsam und humorvoll erzählt, dabei realitätsnah ohne kitschig zu werden.

Joachim B. Schmidt „Kalmann“

Diogenes Verlag 2020 / geb. / 352 Seiten / 22,00 €
Eine Empfehlung von Nina Schramm

In einem kleinen Dorf im nördlichen Island lebt der 34-jährige Kalmann. Als Jäger, Haifänger und Hersteller von Gammelhai hat er hier seinen Platz gefunden und führt zugleich das Erbe seines Großvaters fort. Die Gedanken in Kalmanns Kopf drehen zuweilen wilde Pirouetten. Sein kindlicher Blick auf die Welt und auch sein Beruf, den er mit Passion betreibt und den geruchsempfindliche Zeitgenossen auf Abstand gehen lassen, haben ihm den Ruf des harmlosen Sonderlings eingebracht. Dennoch wird Kalmann in seinem Dorf akzeptiert und gemocht.

Als Kalmann bei einem seiner Streifzüge eine große Blutlache entdeckt, ist die Aufregung groß: Presse und Polizisten stürmen das Dorf und ziehen die Einwohner ordentlich auf links. Kalmann scheint etwas zu wissen, bekommt seine Gedanken jedoch nicht geordnet. Wer ist das Opfer, wo ist es, und was ist überhaupt passiert?

Wir als Leser verfolgen den Fall mit den Augen Kalmanns und bekommen dabei eine ganz besondere Sicht auf seine Welt und die Ereignisse darin. Ein Buch, das mich sehr bereichert hat, denn Kalmann ist eine ebenso skurrile wie glaubwürdige Figur, die keine Klischees bedient, sondern zeigt, wie bunt die Welt ist.

Foto Joachim B. Schmidt: Eva Schram © Diogenes Verlag

Jean Paul Dubois „Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise“

Verlag dtv / geb. / 254 Seiten / 22 €
Eine Empfehlung von Gabriele Klinski

Ein sperriger Titel, ein Buchcover, das m. E. nicht animiert, es in die Hand zu nehmen. Bitte nicht davon abhalten lassen, begegnen Sie diesem herausragenden Roman mit Neugier und Leselust!

Jean Paul Dubois (Foto © Normand Patrice) erhielt dafür 2019 den Prix Goncourt, den wichtigsten französischen Literaturpreis.

Er erzählt die Geschichte eines unbescholtenen Mannes, Paul Hansen, der jetzt im fortgeschrittenen Alter im Gefängnis von Montreal einsitzt, verurteilt zu zwei Jahren Haft. Seine Zelle teilt er mit einem Kraftpaket von Mann der Hells-Angels-Biker, verbal und körperlich sehr präsent und massiv. Hansen könnte seine Zeit im Knast verkürzen: Er müsste Reue zeigen. Tut er aber nicht.

Auf der zweiten Erzählebene geht es um seine Herkunftsgeschichte: Er ist der Sohn eines dänischen Priesters, der in den 60er Jahren wegen der Liebe nach Frankreich ging und, nachdem die Ehe zerbrach, sich allein Richtung Kanada aufmachte und in Montreal heimisch wurde. Sein Sohn, eben dieser Paul Hansen, folgt ihm bald, findet schnell Arbeit und später die Stelle als Manager eines Wohnkomplexes, die ihm zum Verhängnis werden wird.

Dubois erzählt über Aufbruch, Scheitern und Neuanfang: ein Stück Gesellschaftsgeschichte über mehrere Jahrzehnte, die diesem Roman eine besondere Spannung gibt.

Großartig, lebendig, facettenreich und sprachlich beeindruckend!

Fabio Geda „Ein Sonntag mit Elena“

Verlag Hanserblau 2020 / geb. / 220 Seiten / 20 €
Eine Empfehlung von Gabriele Klinski

Ein kleines Buch – im Format – eine stille Geschichte mit besonderer Wirkung:
Im Mittelpunkt des neuen Romans von Fabio Geda (Foto © Walter Menegazzi) steht ein Mann Ende sechzig, Vater von drei erwachsenen Kindern, die ihr eigenes Leben führen. Seine Frau lebt nicht mehr, vor gar nicht langer Zeit kam sie bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Er hat ein reiches Berufsleben hinter sich, als Ingenieur, der Brücken baute, war er auf allen Kontinenten unterwegs.

Jetzt lebt er allein mit vielen Erinnerungen in der großen Wohnung der Familie. Der Sonntag war Familientag und zum ersten Mal, seitdem er allein ist, lädt er eine seiner Töchter mit ihrem Mann und den Enkelkindern zum Sonntagsessen ein. Er bereitet alles vor, er kocht aus dem Rezeptbuch seiner Frau, eine neue aufregende Erfahrung. Schweißtreibend. Dann der Anruf, der Neues in Bewegung setzt!

Feinfühlig, durchaus melancholisch erzählt Fabio Geda von Hoffnung, Nähe und unerwarteten Perspektiven.

Oyinkan Braithwaite „Meine Schwester, die Serienmörderin“

Blumenbar/aufbau 2020 / Übersetzer/in Yasemin Dinçer / Geb. / 240 Seiten / 20,00 €
Eine Empfehlung von unserer Auszubildenden Sophie Wray

Zwei Schwestern mit den verschiedensten Qualitäten: Korede, die Ältere, keine Augenweide, aber immer zuverlässig und gründlich, arbeitet als Krankenschwester. Und Ayoola, die Jüngere, schön und flatterhaft, ist Modedesignerin und: Sie neigt dazu, ihre Männer umzubringen. Korede, pflichtbewusst, wie sie ist, hilft beim Beseitigen von Spuren und Leiche, denn immerhin hat Ayoola in Selbstverteidigung gehandelt, so wie bei den anderen Malen zuvor. Sagt sie.

Das Messer im Rücken des Opfers: Korede lässt die Motive ihrer Schwester zum ersten Mal hinterfragen. Und als Ayoola ein Auge auf Tade wirft, der umwerfende Arzt aus dem Krankenhaus, für den Korede schon so lange schwärmt, muss sie sich fragen, wen sie von nun an beschützen will und sollte.

Ein flüssig zu lesendes Buch, dass nicht nur überraschend viel Spaß macht mit seinem schwarzen Humor, sondern die Leserin/den Leser dazu anregt, wie die Erzählerin selbst, Richtig und Falsch aus neuen Perspektiven zu sehen.

Doris Knecht „Weg“

Rowohlt Berlin 2019 / Geb. / 304 Seiten / 22,00 €
Eine Empfehlung von Nina Schramm

Vor etwa 20 Jahren hatten Heidi und Georg eine kurze Affäre, aus der ein Kind hervorgegangen ist: Charlotte, genannt Lotte, wächst bei Heidi auf. Der Kontakt zum Vater ist eher sporadisch. Heidi und Georg haben wenig miteinander gemeinsam, sie mögen sich nicht einmal besonders. Aber Lotte ist eigensinnig, widerspenstig und psychisch labil – sie braucht beide.

Als Lotte plötzlich spurlos verschwindet, müssen sich Heidi und Georg zusammenraufen. Die Spuren ihrer Tochter führen nach Südostasien und so machen sich die beiden im Grunde völlig Fremden auf den Weg. Die etwas kleinbürgerliche Heidi, die noch nie in einem Flugzeug saß und der weltoffene Georg müssen sich auf der Suche auch ihren eigenen Ängsten stellen, sich gegenseitig öffnen, ihre jeweiligen Lebensentwürfe hinterfragen.

Ich liebe Doris Knecht (Foto © Pamela Rußmann) für ihre feine Beobachtungsgabe und für ihren schonungslosen Blick auf das Leben, seine kleinen Geschichten und die Menschen darin. Ihre Romane zu lesen, hat etwas vom Blick in das Fenster der Nachbarn, die uns nah und vertraut sind.