Sarah Jollien-Fardel „Lieblingstochter“

Aufbau Verlag 2023 / Geb. / 221 Seiten / 24,00 €
Eine Empfehlung von Gabriele Klinski

Ein Debutroman, bei dem mir während des Lesens immer wieder der Atem stockte. Kein Krimi, wohlgemerkt, erzählt wird die Lebensgeschichte einer Frau, Jeanne, aufgewachsen im Kanton Wallis zusammen mit der älteren Schwester, der Mutter und einem gewalttätigen Vater.

Durch ausgezeichnete schulische Leistungen schafft sie es, der ständigen Angst vor der Brutalität des Vaters und der Enge des Dorfes zu entfliehen. Die Erfahrungen ihrer Kindheit verbirgt sie hinter einer Mauer ähnlich einem Harnisch, um neue Verletzungen abzuwehren. Als junge Frau sucht sie die körperliche Nähe anderer Frauen, beruflich gewinnt sie Anerkennung, ihr Leben scheint sich zu normalisieren. Bei der Bewerbung um einen neuen Job begegnet sie Paul, vom ersten Augenblick an ist zwischen ihnen eine starke Anziehung, eine Zärtlichkeit, die sie aufwühlt und aus der Fassung bringt. Die Wut auf ihre Vergangenheit und das Aufbegehren, diese abzulegen, führt durch dieses völlig neue Gefühl zu einer innerlichen Spannung, die für Jeanne kaum auszuhalten ist.

Eine ungewöhnliche Protagonistin, verwundet und stark, ein mitleidsloser Ton, in dem die Geschichte erzählt wird: intensiv, mitfühlend und unter die Haut gehend.

Trude Teige „Als Großmutter im Regen tanzte“

S. Fischer Verlag 2023 / Geb. / 384 Seiten / 22 €
Eine Empfehlung von Susanne Stammeier

Lilla, die Mutter von Juni, ist gestorben. Juni reist auf die kleine norwegische Insel vor Kragerø in das Haus ihrer Großeltern, in dem Lilla zuletzt wieder gelebt hatte. Sie möchte Lillas Nachlass ordnen und flieht gleichzeitig vor ihrer Ehe mit ihrem gewalttätigen Ehemann Jahn.

In der Umgebung ihrer Kindheit werden bei Juni alte Erinnerungen wach. Vieles, was ihr stets als dunkles Geheimnis ihrer Familiengeschichte erschien, taucht wieder an der Oberfläche auf. Als sie ein Foto ihrer Großmutter Thekla findet, auf dem diese als junge Frau mit einem deutschen Wehrmachtssoldaten zu sehen ist, begibt sich Juni auf eine Reise nach Deutschland, um die Rätsel zu lösen. Begleitet wird sie dabei von Georg, der ebenfalls eine gescheiterte Beziehung verarbeiten muss.

Trude Teige ist norwegische Journalistin. Für ihren Roman, der in Norwegen ein Bestseller war, diente u.a. das Leben einer norwegischen Zeitzeugin als Vorlage.

Äußerst spannend und historisch aufschlussreich erzählt!

Sarah Winman „Lichte Tage“

Klett-Cotta 2023 / Geb. / 240 Seiten / 22 €
Eine Empfehlung von Gabriele Klinski

Eine Freundschaftsgeschichte, eine Liebesgeschichte: traurig-schön. Wir treffen auf Ellis und Michael in den 80er/90er Jahren, beide erleben belastende Familienverhältnisse, im Urlaub in Südfrankreich beginnt zwischen Ihnen eine überraschende homoerotische Beziehung. Einige Jahre später, als Annie in das Leben von Ellis tritt, nehmen wir teil an dem Glück der beiden und ihrer großen Liebe, die Michael einschließt. Gemeinsam verbringen Sie eine wunderbare Zeit, dann verschwindet Michael. Erst nach und nach lichtet sich der Lebensweg dieser drei Freunde, schicksalhaft verbunden voller Melancholie.

Das Buch für die Stadt und die Region 2022: Nava Ebrahimi „Sechzehn Wörter“

Das Buch für die Stadt ist eine gemeinsame Literaturaktion vom Literaturhaus Köln und den Kölner Stadt-Anzeiger.

„Sechzehn Wörter“ war das Debüt der 1978 in Teheran geborenen und in Deutschland aufgewachsenen Autorin. Der Roman erschien bereits 2017 und wurde in dem Jahr mit dem österreichischen Buchpreis ausgezeichnet. „Ein kluger poetischer Roman“ heißt es in der Begründung der Jury.

Claudia Petrucci „Die Übung“

Wagenbach Verlag 2022 / Geb. / 304 Seiten / 23,00 €
Eine Empfehlung von Susanne Stammeier

Giorgia und Filippo, Mitte dreissig, leben in einem Stadtteil von Mailand. Sie sind nicht unglücklich, haben sich aber eher widerwillig mit den Anforderungen des Alltags arrangiert. Um ihren Lebensunterhalt zu finanzieren, arbeitet Giorgia an der Kasse eines Supermarktes, Filippo hat die Bar seiner Eltern übernommen. Ihre Beziehung ist eine Insel, die Ihnen das Gefühl geben soll, dass es sich nur um eine Lebensphase handelt, die sie überstehen müssen, um dann im „richtigen“ Leben anzukommen.

Schnell wird klar, das Giorgia über eine besondere Wahrnehmung verfügt und es ihr schwer fällt, die vielen Eindrücke und Reize ihrer Umwelt angemessen zu verarbeiten.

Eines Tages begegnet ihr im Supermarkt ein alter Freund, Mauro, Regisseur und Schauspieltrainer, mit dem sie eine Vergangenheit am Theater verbindet. Er überredet sie, bei seinem nächsten Stück mitzuspielen. Giorgia lässt sich nach einigem Zögern wieder ein auf die Welt des Theaters und ihre Rolle. Sie scheint glücklich und ausgefüllt, doch am Tag der Premiere bricht sie zusammen. Filippo ist verzweifelt. Er würde alles dafür geben, sein „altes“ Leben mit Giorgia weiterleben zu können. Gleichzeitig muss er einsehen, dass vieles, was er von Giorgia zu wissen glaubte, nicht der Wahrheit entspricht.

Bei seinen Besuchen in der Klinik begegnet er immer öfter Mauro, den ebenfalls viel mit Giorgia zu verbinden scheint. Schließlich entwickeln die beiden Männer einen abgründigen Plan, um Giorgia wieder am Leben teilnehmen zu lassen.

Der Roman der Autorin Claudia Petrucci, 1990 geboren, entwickelt einen unwiderstehlichen Sog. Gespannt folgt man den Protagonisten in eine Welt aus Schein und Sein, ihr Ringen um Identitäten und Gewissheiten. Ein sprachlich und psychologisch fulminantes Buch, welches einen tiefen Eindruck hinterlässt.

Mathijs Deen „Der Holländer“

mareverlag 2022 / Geb. / 272 Seiten / 20 €
Eine Empfehlung von Detlef Gertkamp

Klaus und Peter, zwei erfahrene Wattwanderer, brechen vom ostfriesischen Festland nach Borkum auf, nur Peter kommt auf der Insel an. Klaus wird wenig später auf der Sandbank De Hond im Grenzgebiet zu den Niederlanden tot angespült. Im Gerangel um Zuständigkeiten zwischen niederländischen und deutschen Behörden wird das ein Fall für den Ermittler Liewe Cupido, genannt „der Holländer“. Er ist gebürtiger Deutscher, auf der niederländischen Insel Texel aufgewachsen und wohl der Richtige, um den Tod aufzuklären.

In Mathijs Deen ersten Kriminalroman treffen wir auf den zweisprachigen Ermittler Cupido, eine störrische, schweigsame, nicht besonders freundliche Figur. Eigenwillig. Beide, Autor und Ermittler, kennen die Gegend und die Unberechenbarkeit des Wattenmeers sehr genau. Das spürt und fühlt man auf jeder Seite der Lektüre. Ein spannender, höchst unterhaltsamer Krimi mit einem überraschenden Ende und der großen Hoffnung auf mehr Meer.

Vendela Vida „Die Gezeiten gehören uns“

Hanser Verlag 2022 / Geb. / 288 Seiten / 22 €
Eine Empfehlung von Claudia Kürten

Eine Mädchenfreundschaft im San Francisco der 80er Jahre. Eulabee und Maria Fabiola sind Teenager, engste Freundinnen seit Kindertagen. Dabei ist die außergewöhnlich hübsche und einnehmende Maria Fabiola die Tonangebende – bis sie eines Tages mit einer Lügengeschichte zu weit geht. Die Freundschaft zerbricht, Eulabee bleibt als Ausgestoßene zurück. Erst eine zufällige Begegnung Jahrzehnte später ermöglicht ihr, diese schmerzhafte Erinnerung für sich abzuschließen.

Aus Sicht der schwedischstämmigen Eulabee erzählt, ist dieser Roman leichtfüßig und schön zu lesen – ein angenehmer Hauch von Nostalgie bleibt dabei nicht aus sowohl um der eigenen Jugenderinnerungen willen als auch um das San Francisco der 80er Jahre, dass man durch ihre Augen als einen Ort wahrnimmt, der vertraut und sicher ist; eben das Zuhause aus Kinder- und Jugendtagen, an das wir uns trotz allem so gern erinnern.