Residenz 2025 / Geb. / 255 Seiten / 26 € Eine Empfehlung von Lukas Becker
Manchmal sind die größten Geschichten leise. Im heißen Sommer 2020 lebt die Autorin auf einem Wagenplatz, kämpft mit Krankheit und zugleich mit der Suche nach einem selbstbestimmten Leben. Kraft schöpft sie aus Erinnerungen und inneren Gesprächen mit ihrem Vater, der als Mitglied der polnischen Untergrundarmee den Gulag überlebt hat. Seine Widerstandskraft hallt in ihr nach – anders, doch ebenso kämpferisch, in ihrer queeren Existenz.
Neben die historischen und persönlichen Spiegelungen tritt Karl, ein gestrandetes Krähenbaby, das Fürsorge und Nähe verlangt. Zwischen Fieberträumen, Einsamkeit und stillen Momenten entfaltet Bryla eine Sprache, die lakonisch, liebevoll und manchmal surreal ist. Sie verwebt Vatergespräche, Gegenwart und innere Bilder zu einem Ganzen, das sowohl intimes Porträt als auch Reflexion über Widerstand, Versprechen und Verbundenheit ist.
Ein berührendes, still kraftvolles Buch über Familie, Überleben und die kleinen Momente, die uns tragen. Kaska Bryla erzählt von Mut, Erinnerung und der Suche nach einem selbstbestimmten Leben – ein leises, aber unvergessliches Buch.
Hanser 2025 / Geb. / 176 Seiten / 23 € Eine Empfehlung von Lukas Becker
Ein Mittagessen in Manhattan – beiläufig, fast alltäglich. Doch mit einer einzigen Behauptung gerät die Wirklichkeit ins Wanken: Ein junger Mann tritt an die Seite einer Schauspielerin und erklärt, er sei ihr Sohn. Ein Sohn, den sie nie geboren hat. Aus dieser Irritation spinnt Katie Kitamura in „Die Probe“ ein raffiniertes psychologisches Spiel, das Identität, Erinnerung und Wahrheit unaufhörlich gegeneinander verschiebt. Die Schauspielerin, Meisterin der Masken, probt eigentlich nur für ihre nächste Rolle – und doch gerät sie plötzlich selbst ins Proben. Ist Xavier ein Betrüger, ein Spiegel, ein Gespenst? Und was bedeutet seine Anwesenheit für ihre Ehe mit Tomas, dem Schriftsteller, der mit dem Scheitern ringt?
Kitamura entfaltet die Begegnung in einer Sprache, die kühl wirkt und dabei brennt; präzise und zugleich von einer unheimlichen Intensität. „Die Probe“ ist weniger ein Roman mit eindeutigen Antworten als ein literarisches Experiment: Wie dünn ist die Haut, die Fiktion und Wirklichkeit trennt? Wie schnell kippt Nähe ins Unheimliche, Intimität ins Fremde? Kitamura beobachtet mit scharfem Blick, aber nie ohne Empathie – und schafft so ein Werk, das zugleich verstört und fesselt. Katie Kitamura beweist mit „Die Probe“ einmal mehr, warum sie zu den spannendsten Stimmen der Gegenwartsliteratur zählt.
Suhrkamp 2025 / Geb. / 219 Seiten / 24 € Eine Empfehlung von Lukas Becker
„Hundesohn“ ist ein Roman über das, was bleibt, wenn man zu viele Orte bewohnt, aber nirgends ganz zuhause ist – über Liebe, die nicht vergeht, obwohl sie nie ganz gelebt wurde. Es ist die Geschichte von Zeko, einem jungen Berliner zwischen Parks und Moscheehöfen, zwischen Therapiesitzung und Freitagsgebet, der Männer küsst und doch immer nur an einen denkt: Hassan, den Nachbarsjungen aus Adana, den der Großvater verächtlich „Hundesohn“ nannte und den Zeko nie vergessen konnte.
Mit jedem flüchtigen Körper, jeder Begegnung, jedem Blick zurück in die sengende Sommerhitze Anatoliens wird spürbar, wie tief Erinnerung im Begehren wurzelt – und wie sehr das, was war, das Jetzt überschattet. Keskinkılıç schreibt mit großer Intensität und zugleich mit einer poetischen Zurückhaltung, die mehr andeutet als erklärt. Es geht um Verlust, Scham, Begehren, Stolz – aber auch um Rituale, Sprache, Essen, Gebet. Die arabischen Lieder des Großvaters hallen ebenso nach wie die stillen Lücken im Gespräch mit Hassan. Berlin und Adana überlagern sich in diesem Text wie zwei Ebenen einer Karte: Nie ganz deckungsgleich, aber untrennbar verbunden. Zekos Körper trägt beide Städte in sich – und mit ihnen die Zerrissenheit einer queeren migrantischen Existenz, die sich nicht auflösen lässt in Identität, aber auch nicht verbergen lässt im Alltag.
„Hundesohn“ ist ein Roman über das, was bleibt, wenn man zu viele Orte bewohnt, aber nirgends ganz zuhause ist – über Liebe, die nicht vergeht, obwohl sie nie ganz gelebt wurde. Es ist die Geschichte von Zeko, einem jungen Berliner zwischen Parks und Moscheehöfen … weiterlesen
Katie Kitamura Die Probe Hanser 2025 / Geb. / 176 Seiten / 23 € Eine Empfehlung von Lukas Becker
Ein Mittagessen in Manhattan – beiläufig, fast alltäglich. Doch mit einer einzigen Behauptung gerät die Wirklichkeit ins Wanken: Ein junger Mann tritt an die Seite einer Schauspielerin und erklärt, er sei ihr Sohn. Ein Sohn, den sie nie geboren hat. Aus dieser Irritation spinnt … weiterlesen
Kaska Bryla Mein Vater, der Gulag, die Krähe und ich Residenz 2025 / Geb. / 255 Seiten / 26 € Eine Empfehlung von Lukas Becker
Manchmal sind die größten Geschichten leise. Im heißen Sommer 2020 lebt die Autorin auf einem Wagenplatz, kämpft mit Krankheit und zugleich mit der Suche nach einem selbstbestimmten Leben. Kraft schöpft sie aus Erinnerungen und inneren Gesprächen mit ihrem Vater … weiterlesen
Kiepenheuer & Witsch 2025 / Geb. / 224 Seiten / 25 € Eine Empfehlung von Lukas Becker
Mit „Air“ beweist Christian Kracht erneut, wie elegant er Wirklichkeit und Traumwelt miteinander verweben kann. In seinem neuen Roman folgen wir Paul, einem Schweizer Innenarchitekten, der sich auf den Orkney-Inseln ein ruhiges Leben aufgebaut hat. Sein Beruf: leerstehende Häuser so zu inszenieren, dass sie Käufer*innen verführen.
Doch ein ungewöhnlicher Auftrag aus Norwegen bringt sein Dasein aus dem Gleichgewicht. Was als simpler Job beginnt, weitet sich zu einer fantastischen Odyssee aus — und führt Paul in eine verstörende, eisige Parallelwelt, wo er zusammen mit einem rätselhaften Kind, Ildr, vor einem bedrohlichen Herzog fliehen muss.
Kracht erzählt diese Geschichte in seiner gewohnt feinen, präzisen Sprache, die nüchtern und zugleich poetisch wirkt. „Air“ ist weit mehr als ein Abenteuerroman: Es ist eine kluge Meditation über Wahrnehmung, Entwurzelung und die Zerbrechlichkeit dessen, was wir für „real“ halten. Und dabei gut unterhaltend!
Rowohlt Verlag 2025 / Geb. / 400 Seiten / 24 € Eine Empfehlung von Susanne Stammeier
Das Romandebüt des 1989 in Teheran geborenen Autors passt in keine Schublade: Cyrus Shams sucht nach Zugehörigkeit, Erfolg und – nicht zuletzt – dem Sinn des Lebens. Seine Mutter starb beim Abschuss eines Flugzeugs über dem Persischen Golf, als Cyrus 1 Jahr alt war.
Schnell wird klar, dass noch andere Familienmitglieder stark vom Irak/Iran-Krieg in den 1980er Jahren geprägt wurden, allen voran ein Bruder von Cyrus´ Mutter, der stark traumatisiert ist und kaum noch Kontakt zu anderen Menschen hat.
Nach dem Unglück versucht Cyrus´ Vater, mit dem Säugling in den USA Fuß zu fassen. Als Arbeiter auf einer riesigen Geflügelfarm verdient er das Geld für ihr bescheidenes Leben, stirbt aber ebenfalls früh, während sein Sohn gerade erwachsen geworden ist.
Cyrus ergattert einen Studienplatz und verdient sich nebenbei ein wenig Geld mit Patientensimulationen an einem Krankenhaus. Tatsache ist jedoch, dass er vor allem Alkohol und Drogen konsumiert und fast schon besessen davon ist, zumindest seinem Leben einen Sinn zu geben. Er schreibt Gedichte, träumt davon, ein Buch zu schreiben …
Als Cyrus den Hinweis auf ein ungewöhnliches Kunstprojekt im Brooklyn Museum erhält, macht er sich mit seinem Freund Zee auf den Weg nach New York – wo sein Leben komplett auf den Kopf gestellt wird. Intensiv, packend und oft überraschend erzählt der Autor sowohl von Leben und Trauer, Migration und Glauben und – nicht zuletzt – von Liebe und Kunst. Sehr lesenswert!
Suhrkamp 2025 / Geb. / 90 Seiten / 20 € Eine Empfehlung von Lukas Becker
„Weiter nach Osten“ ist ein leiser, dabei kraftvoller Roman über zwei Menschen, die sich begegnen – irgendwo zwischen Fremde, Flucht und der flirrenden Bewegung einer Reise, die keiner von beiden ganz versteht. An Bord der Transsibirischen Eisenbahn treffen sich Aljoscha, ein junger russischer Zwangsrekrut mit dem festen Willen zu desertieren, und Hélène, eine Französin, unterwegs in einem Land, das ihr fremd ist, aus Gründen, die sie nicht teilt.
Sie sprechen nicht dieselbe Sprache. Und doch entsteht in den schmalen Gängen zwischen Schlafwagen und Nachtlicht etwas wie Verstehen – eine vorsichtige Nähe, eine wortlose Übereinkunft. Hélène nimmt Aljoscha mit in ihr Abteil, in ihre Geschichte, vielleicht auch in ihre Einsamkeit. Was daraus wird, bleibt offen: Flucht? Vertrauen? Oder nur ein Augenblick der Menschlichkeit inmitten der Ungewissheit?
Maylis de Kerangal erzählt mit großer Sensibilität – knapp, aber nie kalt, zart, aber nie sentimental. Sie verdichtet Landschaft, Atmosphäre und Zeit zu einer Bewegung, die mehr innere als äußere Strecke zurücklegt. Die Weite Russlands, das Rattern des Zuges, die flüchtigen Begegnungen im Transitraum: All das wird zum Spiegel innerer Zustände, zur Kulisse einer Verbindung, die zugleich zufällig und unvermeidlich wirkt.